K. Luchsinger u.a. (Hrsg.): Auf der Seeseite der Kunst

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Titel
Auf der Seeseite der Kunst. Werke aus der Psychiatrischen Klinik Münsterlingen 1894-1960


Herausgeber
Luchsinger, Kathrin; André, Salathé; Gerhard, Dammann: Monika, Jagfeld
Erschienen
Zürich 2015: Chronos Verlag
Anzahl Seiten
160 S.
Preis
URL
Rezensiert für infoclio.ch und H-Soz-Kult von:
Marietta Meier, Forschungsstelle für Sozial- und Wirtschaftsgeschichte, Universität Zürich

Au/ der Seeseite der Kunst ist die Begleitpublikation zu einer Ausstellung, die vom Dezember 2014 bis Mai 2015 im Museum im Lagerhaus, Stiftung für schweizerische Naive Kunst und Art Brut, St. Gallen, und im Staatsarchiv Thurgau, Frauenfeld, zu sehen war. Bis in die 1980er Jahre hinein bedeutete «von der Seeseite» im Thurgau, dass man aus der direkt am Seeufer, jenseits der Bahnlinie gelegenen Heil- und Pflegeanstalt Münsterlingen kam, die 2015 ihr 175-Jahr-Jubiläum feierte. Im Titel des Sammelbands wird diese Redewendung zwar aufgenommen, aber nicht von Kunst «von der Seeseite» gesprochen, sondern von «der Seeseite der Kunst». Die Werke aus der Psychiatrischen Klinik Müsterlingen seien - so heisst es - «[n]ur vermeintlich im Abseits entstanden». Im Zentrum der Publikation steht dementsprechend weniger die Frage, ob beziehungsweise unter welchen Bedingungen Werke von Psychiatriepatientinnen und -patienten als Kunst verstanden werden, als die Frage, ob sich zwischen den Werken, deren Beschreibung, Interpretation und Bewertung, der Psychiatrie und der Gesellschaft einer bestimmten Epoche Wechselwirkungen aufzeigen lassen.

In den Jahren 2006 bis 2014 wurden zwei Forschungsprojekte zum «Bewahren besonderer Kulturgüter» durchgeführt, in deren Rahmen in den psychiatrischen Kliniken der Schweiz nach überlieferten Werken von Patientinnen und Patienten gesucht wurde. Das Forschungsvorhaben verfolgte das Ziel, einen Überblick über die Werke von Patientinnen und Patienten aus dem Zeitraum von Ende des 19. Jahrhunderts bis 1930 zu gewinnen, die in psychiatrischen Anstalten erhalten geblieben sind, und zu erschliessen, welche Psychiater sich vor allem für die Werke von Patientinnen und Patienten interessierten, diese sammelten und darüber publizierten (vgl. www.kulturgueter.ch/index.html).

In 19 von 30000 Krankenakten der Psychiatrischen Klinik Münsterlingen fanden sich 249 Zeichnungen von stationären oder ambulanten Patientinnen und Patienten, die aus den Jahren 1894 bis 1960 stammen - hier ging also der Zeiträum über die Zwischenkriegszeit hinaus. Von einem grossformatigen Ölgemälde abgesehen, gingen alle Werke, die ausserhalb der Krankenakte aufbewahrt worden waren, verloren. Gesammelt wurden die Zeichnungen in erster Linie von den Psychiatern Hermann Rorschach, der 1909 bis 1913 als Assistenzarzt, und Roland Kuhn, der 1939 bis 1980 als Oberarzt in Münsterlingen arbeitete und später die Leitung der Klinik übernahm.

Die elf Beiträge des Sammelbands beleuchten die Werke aus der Klinik Münsterlingen aus psychiatrischer, medizinhistorischer, historischer und kunsthistorischer Perspektive. Ein Teil der Texte bettet die Werke in einen grösseren Kontext ein: André Salathé zeigt auf, welche Kriterien ein fachgerechter und ethisch vertretbarer Umgang mit gestalterischen Produkten von Psychiatriepatienten aus der Perspektive des Archivars berücksichtigen sollte. Urs Germann skizziert den konkreten Rahmen, in dem die Werke von Patientinnen und Patienten in der Zeit um 1900 entstanden. Dabei wird auch deutlich, dass «Bildermachen in der Anstalt» weniger Sache der Patienten als der Psychiater war, die damals alle Patientinnen und Patienten fotografieren Hessen. Kathrin Luchsinger bringt den Münsterlinger Bestand mit der Geschichte der psychiatrischen Therapeutik in Verbindung, Rita Signer und Gerhard Dammann befassen sich mit Hermann Rorschachs und Roland Kuhns Arbeiten zu gestalterischen W rken von Patientinnen und Patienten. Sechs Texte, die Monika Jagfeld, Kathrin Linder und Kathrin Luchsinger verfassten, beziehen sich jeweils auf ein einzelnes Werk, die mit einer Ausnahme alle sehr schmal sind. Fünf davon stammen von Patienten, eines von einer Patientin - insgesamt sind vor allem Zeichnungen von Männern überliefert. Zu sämtlichen Künstlerinnen und Künstlern der Ausstellung findet sich eine Kurzbiografie, für die Jacqueline Fahrni und Kathrin Luchsinger verantwortlich zeichnen. Zahlreiche Abbildungen und ein Teil mit Farbtafeln bieten einen Einblick in ein breites Spektrum von Werken.

Aus geschichtswissenschaftlicher Perspektive stellen sich bei gestalterischen Produkten von Psychiatriepatientinnen und -patienten ähnliche Fragen wie bei deren Selbstzeugnissen und den Debatten um die patient's view. So wäre es beispielsweise wichtig zu wissen, ob Patientinnen und Patienten, die sich gestalterisch betätigten, bestimmte charakteristische Merkmale aufwiesen und welche Werke aus welchen Gründen aufbewahrt oder vernichtet wurden. (So sind etwa von Meta Anderes, einer Seidenknüpferin, die 1900 bis 1927 in Münsterlingen hospitalisiert war, nur einige Zeichnungen überliefert, nicht aber ihre textilen Arbeiten, die sie in grosser Zahl herstellte.) Lassen sich die Zeichnungen von Psychiatriepatientinnen und -patienten tatsächlich, wie es im Klappentext des Bandes heisst, generell als «Ausdruck des Wunsches nach Teilhabe am öffentliehen Leben» verstehen? Stand Zeichnen in den Augen dieser Patientinnen und Patienten wirklich «für Bildung, Professionalität und Kunst»? Wie lassen sich Werk, Selbstzeugnisse von Patienten, Vermerke in Kranken- und anderen Klinikakten und Fachpublikationen von Ärzten aufeinander beziehen? Wann verstanden Psychiater Zeichnen einfach als Freizeitbeschäftigung ihrer Patienten und Patientinnen, wann hatte es in ihren Augen (auch) einen therapeutischen Wert? Linter welchen Bedingungen suchten und fanden sie über gestalterische Werke das Gespräch mit Patienten? Welche Bilder und Zeichnungen von welchen Patientinnen wurden als Ausdruck einer psychischen Störung interpretiert, welche Werke tiefenpsychologisch gedeutet, welche wissenschaftlich ausgewertet? Welchen wurde ein künstlerischer Wert zugeschrieben?

Der Bestand aus Münsterlingen zeichne, so die These des Sammelbands, «ein scharfes Zeitbild der Schweiz». Scharf scheint dieses Bild vor allem, wenn es gelingt (und die Quellenlage es ermöglicht), die Form, den Inhalt und den konkreten Entstehungskontext einzelner Zeichnungen mit dem Lebenslauf und der Krankengeschichte des Patienten zu verbinden und gleichzeitig in einen grosseren historischen Zusammenhang einzubetten. So zeichnete der Wanderarbeiter Emil K., der 1943/44 acht Monate in der Thurgauischen Heil- und Pflegeanstalt verbrachte, auf den sieben Blättern, die von ihm erhalten sind, neben einem Zeppelin, einer Lokomotive sowie kleineren skizzenhaften Darstellungen einer Landschaft und Ähnlichem, vor allem Kirchen und Türme. Während sich Letztere nur schwer auf Emil K.s Biografie beziehen lassen, liegt es nahe, Zug, Zeppelin und die kleinen Motive mit den langen Fussmärschen in Verbindung zu bringen, die der Knecht auf der Suche nach Ärbeit durch die Schweiz zurücklegte. Gleichzeitig wird Emil K.s Leben auf der Landstrasse zu der Diagnose Vagantität in Bezug gesetzt und gezeigt, dass die Umdeutung des Landstreichertums zur psychischen Krankheit parallel zu dessen Entkriminalisierung erfolgte. Ob Emil K. tatsächlich (in erster Linie) in die psychiatrische Anstalt eingewiesen wurde, weil man ihm einen krankhaften Wandertrieb attestierte - die Aufnahmediagnose lautete «imbeziller Psychopath, haltlos, Vagantität, Angsthysterie» -, muss allerdings offenbleiben. Je mehr sich das Spektrum und die Zahl der analysierten Quellen vergrössert, desto deutlicher dürfte sich jedoch abzeichnen, wie die Aussagereichweite solch faszinierender Einzelfallanalysen einzuschätzen ist.

Zitierweise:
Mariette Meier: Rezension zu: Kathrin Luchsinger, André Salathé, Gerhard Dammann, Monika Jagfeld (Hg.), Auf der Seeseite der Kunst. Werke aus der Psychiatrischen Klinik Münsterlingen 1894-1960, Zürich: Chronos Verlag, 2015. Zuerst erschienen in: Schweizerische Zeitschrift für Geschichte Vol. 66 Nr. 2, 2016, S. 324-326.

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Zuerst veröffentlicht in

Schweizerische Zeitschrift für Geschichte Vol. 66 Nr. 2, 2016, S. 324-326.

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